DOKU.ARTS
Zeughauskino Berlin
06.–23.10.2016

Film

Notfilm: A Kino-Essay by Ross Lipman

Der irische Schriftsteller und Dramatiker Samuel Beckett versuchte sich nur ein Mal als Drehbuchautor. Sein 20-minütiger Kurzfilm, in der Regie von Alan Schneider, mit dem Titel Film und dem berühmten Stummfilmstar Buster Keaton in der Hauptrolle erschien 1965. Keaton spielt darin einen mysteriösen Fremden, der in den unwirtlichen Straßen Brooklyns vergeblich versucht, sich dem stetigen Blick der Kamera zu entziehen – einem Blick, der sich womöglich als das allsehende Auge Gottes deuten ließe, wäre Beckett nicht unter anderem als Atheist bekannt gewesen.

„Der Beobachter wünscht sich nichts sehnlicher als zuzuschauen, während der Beobachtete verzweifelt versucht, sich zu verbergen“, erklärt Beckett. „Am Ende gewinnt einer der beiden.“ Oder wie er an anderer Stelle schreibt: „Ein Mensch kann sich von allen anderen fernhalten, aber sich selbst kann er nicht entkommen.“

Ross Lipmans Dokumentarfilm widmet sich dem berühmten Kurzfilm nun aus unterschiedlichen Blickwinkeln, angefangen mit dem Verleger Barney Rosset von Grove Press, der den Film in Auftrag gab, über das Casting von Keaton (der Wunschkandidat war ursprünglich Charlie Chaplin) bis zur Mitarbeit Becketts an den Dreharbeiten in New York (letzteres war ungewöhnlich für den Dramatiker, der sonst nie an den Inszenierungen seiner Stücke teilhatte). Ehemalige Mitarbeiter und Beteiligte erzählen in lebhaften Interviews von ihren Erinnerungen, und die Wirkung des Films auf verschiedene Generationen von Kritikern und Filmwissenschaftlern wird mit scharfsinnigem Blick erforscht.

Ein interessanter Exkurs erzählt von Becketts Bewunderung für das russische Kino. In den 30er Jahren hatte er an Sergei Eisenstein geschrieben und um die Aufnahme an der Moskauer Filmhochschule gebeten. Die Verbindungen von Film mit den Stilmitteln des klassischen Sowjet-Kinos (die Kamera führte Boris Kaufman, ein Bruder des Regisseurs und Filmtheoretikers Dsiga Wertow, der den Begriff „Kino-Auge“ prägte) werden anschaulich dargelegt.

Lipman verbindet sorgfältig ausgewählte Archivaufnahmen mit aktuellen formalen Analysen und zeichnet so ein facettenreiches Porträt von einem faszinierenden Kapitel der künstlerischen Avantgarde.

(mlf)

Ross Lipman

Ross Lipman ist ein unabhängiger Filmemacher und Archivar, der in der Vergangenheit unter anderem als leitender Filmrestaurator des UCLA Film & Television Archive tätig war. Zu seinen zahlreichen Restaurationsprojekten zählen Killer of Sheep von Charles Burnett, Kent Mackenzies The Exiles, der oscargekrönte Dokumentarfilm The Times of Harvey Milk sowie Werke von Charlie Chaplin, Orson Welles, Robert Altman und John Cassavetes. 2008 wurde er mit dem Heritage Award der Anthology Film Archives ausgezeichnet. Seine Essays zu geschichtlichen, technischen und ästhetischen Aspekten des Films wurden in Artforum, Sight & Sound sowie in zahlreichen Lehrbüchern und Fachzeitschriften veröffentlicht. Zu seinen jüngsten Restaurationen zählen der Thom-Andersen-Film Eadweard Muybridge, Zoopraxographer und der Film Crossroads.